
Kommunale Ärztezentren
Die Arbeitgeberin ist die Gemeinde: Büsum war der erste Ort in Deutschland, in dem eine Kommune die Trägerschaft für ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) übernahm. In der politischen Debatte gilt das Modell oft als richtungsweisend und Lösung für den Ärztemangel im ländlichen Raum. Dennoch gibt es bis heute bundesweit nur wenige Dutzend kommunale MVZ. Überdurchschnittlich viele, nämlich sieben kommunale MVZ und zwei kommunale Eigeneinrichtungen, liegen in Schleswig-Holstein. Die dort angestellten Ärzte schätzen das Modell, doch wirtschaftlich schreiben viele der Einrichtungen rote Zahlen. Können Gemeinden medizinische Versorgung – und sollten sie sich überhaupt damit befassen?
Drei Jahrzehnte lang führte Dr. Holger Hamann seine eigene Praxis in Stapel, ein „Dorfschamane mit der Lizenz, gelbe Scheine auszustellen“, so beschreibt er selbst seine Rolle. Schon morgens beim Bäcker traf er die ersten Patienten, hörte sich ihre Geschichten an und konnte nach jedem Spaziergang abschätzen, wie viele Schniefnasen später in der Praxis eintrudelten. Doch nach über 30 Jahren als sein eigener Chef gab der Allgemeinmediziner seine Selbstständigkeit auf: 2020 trat er mit zwei anderen Kollegen in das kommunale MVZ Erfde sein. Zum damaligen Zeitpunkt für ihn der richtige Schritt, zudem sah die Gemeinde eine Chance, die hausärztliche Versorgung in der strukturschwachen Eider-Treene-Sorge-Region auf neue Füße zu stellen.
Tatsächlich konnte das MVZ in Erfde bereits mehrere jüngere Ärztinnen und Ärzte einstellen, berichtet Hamann. Im Herbst 2022 kam Nikolaus Joka aus Flensburg ins Team. Er war bereits Facharzt für Anästhesiologie, in Erfde setzte er seine Weiterbildung zum Allgemeinmediziner fort. Auf das MVZ war er durch ein Imagevideo aufmerksam geworden. Jutta Schnell, ebenfalls in der Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin, arbeitet seit 2024 in der Eider-Treene-Sorge-Region – sie schätzt an der ländlichen Praxis den persönlichen Kontakt zu Patientinnen und Patienten.
Podcast des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes
Ärztezentrum am Kanal: Bürgermeister und Ärztlicher Leiter berichten
Kommune betreibt ambulantes Versorgungszentren: Dieses Modell ist in Schleswig-Holstein – beflügelt durch den Pionier in Büsum – weiter verbreitet als in anderen Bundesländern. Vor einigen Jahren ist auch die Stadt Brunsbüttel diesen Weg gegangen. Welche Erfahrungen die Stadt bislang mit dem „Ärztezentrum am Kanal“ gesammelt hat, berichten Bürgermeister Martin Schmedtje und der ärztliche Leiter Dr. Stefan Krüger im Podcast.
Zurzeit liefen Gespräche mit weiteren Bewerbern, sagt Hamann. Ziel sei, dass er und die anderen älteren Gründungsmitglieder der Gemeinschaftspraxis sich überflüssig machten: „Wenn wir zum Jahresende unsere Kassenarztsitze neu besetzt haben, sind wir Methusalems raus.“ Damit wäre das Ziel erreicht: eine Verjüngung des Ärzteteams und damit eine gesicherte Versorgung für die kommenden Jahre.
Doch nicht alle MVZ schaffen es, freie Stellen zu besetzen. Ein weiteres Problem sind die Kosten, die die Gesundheitszentren in kommunaler Regie verursachen. Die Beratungsfirma Dostal mit Hauptsitz im bayerischen Vilsbiburg, die mehrere Kommunen bei der Gründung von MVZ begleitet hat, geht davon aus, dass die Eigenbetriebe sich tragen und sogar einen „positiven Beitrag zu kommunalen Haushalten leisten“ können. Die Firma legt dazu eine Modellrechnung vor, die von Durchschnittshonoraren für hausärztliche Versorgung ausgeht und eine gut ausgelastete Praxis mit drei praktizierenden Ärzten zugrunde legt. Sie könnten im Jahr einen Umsatz von etwas über einer Million Euro erzielen. Dem stehen als größte Posten rund 700.000 Euro für Personalkosten, rund 70.000 Euro für Raumkosten und Ausstattung, 30.000 Euro für diverse betriebliche Aufwendungen sowie 20.000 Euro für Fremdleistungen wie Labor entgegen. Für die Geschäftsführung und externes Abrechnungscontrolling setzt die Firma 51.000 Euro an. Insgesamt ergibt die Modellrechnung Betriebsausgaben von 927.000 Euro und damit einen Gewinn vor Steuer von rund 93.000 Euro. Nach Abzug der Steuern würde die Gemeinde – selbst wenn die Ärzte noch eine Gewinnbeteiligung erhalten – mit einem Jahres-Plus von über 50.000 Euro abschneiden. Das Fazit im Kundenmagazin der Beratungsfirma ist klar: Ein kommunales MVZ leistet nicht nur einen Beitrag zur Gesundheitsversorgung, sondern ist auch wirtschaftlich sinnvoll.
Die Wirklichkeit, zumindest in Schleswig-Holstein, sieht anders aus. „Aufgrund der Rahmen, die das Gesundheitssystem nun einmal bietet, ist es sehr schwierig, ein MVZ gewinnbringend zu betreiben, wobei es keine Rolle spielt, ob ein kommunaler oder privater Träger dahintersteht“, sagt Laura Lüth, Geschäftsführerin bei der Ärztegenossenschaft Nord, im Interview mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt. Die ÄG Nord managt mehrere kommunale Versorgungszentren, viele sind defizitär.
Zum Beispiel in Bad Bramstedt, wo das inzwischen vier Jahre alte kommunale MVZ zuletzt ein Jahres-Minus von 320.000 Euro verursachte. „Wir haben gleiche Einnahmen bei steigenden Kosten“, sagte die Geschäftsführerin Tanja Schwittay dem NDR. Eine Beraterin kam ins Haus, um gemeinsam mit dem Team Wege zu finden, um die Kosten zu senken. In Brunsbüttel macht das städtische MVZ sogar 500.000 Euro Verlust. „Wir stehen in großer Einigkeit hinter dem MVZ“, sagt Brunsbüttels Bürgermeister Martin Schmedtje (parteilos) in einem Podcast des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes. „Aber wir haben nach dem letzten Jahresabschluss richtig geschluckt.“ Für das Mittelzentrum Brunsbüttel mit seinen rund 13.000 Einwohnern sei bei so einer Summe „das Ende der Fahnenstange“ erreicht.
Es gibt Gründe für das große Defizit im „Ärztezentrum am Kanal“, wie das kommunale MVZ in Brunsbüttel heißt. So sind die Räumlichkeiten überdimensioniert, berichten Schmedtje und Dr. Stefan Krüger, ärztlicher Leiter des MVZ, im Podcast. Die Gemeinschaftspraxis ist in einer Etage des Westküstenklinikums untergebracht, doch „wir holen nicht das Maximale aus den Räumen heraus“, bedauert Krüger. Der Grund ist, dass nicht alle Stellen besetzt werden konnten. Zwar umfasst das ärztliche Team sechs Personen, aber nicht alle arbeiten voll, berichtet Krüger. Mit dabei sind Ärzte, die eigentlich bereits in Rente sind, aber stundenweise im MVZ aushelfen, und ein Kollege, der teils in der Klinik, teils im MVZ arbeitet.
Flexible Arbeitszeiten, die sich den Lebensmodellen anpassen – das ist einer der großen Vorteile eines MVZ, egal ob ein kommunaler oder ein privater Träger dahintersteht. Das passe zur heutigen Arbeitswelt, sagt Hamann: „Früher haben wir Hausärzte ein Modell gefahren, das viele
Jüngere nicht mehr wollen, mit 60 Stunden Arbeit in der Woche und einer Ehefrau, die sich um Kinder, Haushalt und alles Übrige kümmert.“ Aber das gehe nicht mehr: „Wir steuern auf eine weibliche Medizin zu, und wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass die Zukunft nicht mehr nur aus selbstständig tätigen Alleinunternehmern besteht.“
Zum Betrieb eines MVZ gehört in der Regel auch, dass ein externer Dienstleister die Geschäftsführung und Organisation übernimmt. Das ist einerseits sinnvoll, weil die angestellten Ärztinnen und Ärzte ihre Zeit ausschließlich für Behandlungen verwenden. Aber es wirft auch ein Schlaglicht auf die vielen Extraarbeiten, die Selbstständige „nebenbei“ erledigen und die nun eigens bezahlt werden müssen: Material ordern, Papiere für die Steuererklärung zusammenstellen, die Abrechnung mit der KV erledigen, Papier in den Drucker legen.
Auch Hamann hat als Selbstständiger deutlich mehr als 40 Stunden pro Woche gearbeitet und ertappt sich selbst bei einem Bewusstseinswandel: „Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Motivation ändert, wenn man nicht mehr eigenwirtschaftlich verantwortlich ist.“ Er und sein Team versuchen zurzeit, das Defizit zu verringern, indem sie auf das hausarztzentrierte Modell setzen und Patienten zu – medizinisch sinnvollen – extra bezahlten Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen raten. Aber es sei „echte Kopfarbeit“ gefragt, um als Angestellter die finanzielle Seite des Betriebs nicht aus dem Blick zu verlieren, gibt der Allgemeinmediziner zu.
„Ein Arzt in einer Einzelpraxis arbeitet meist in Selbstausbeutung, das ist im System mit eingepreist“, sagt Susanne Müller, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Medizinische Versorgungszentren (BMVZ). Kommt ein Dienstleister ins Spiel, erhalten diese bisher unsichtbaren Arbeitsstunden einen Preis. „Ich möchte eine Lanze für kommunale MVZ brechen“, sagt Müller. „Auch andere Träger arbeiten defizitär. Aber da gibt es weniger Offenlegungspflichten und keinen Gemeinderat, der die Zahlen öffentlich kritisiert.“ Ein weiterer Fehler liege im Honorierungssystem: „Es galt schon immer die Mischkalkulation. Jüngere Patienten mit Schnupfen finanzieren die Älteren mit komplexen Problemen mit.“ Aber der demografische Wandel führe zu immer älteren und kränkeren Patienten, damit passe die Honorarordnung nicht mehr, sobald der Patientenmix nicht mehr stimmt.
Braucht es also öffentliche Träger, die in die Bresche springen? Dr. Jens Lassen, Vorsitzender des Hausärzteverbandes Schleswig-Holstein, zweifelt daran: „Verfolgt man die öffentliche Diskussion um den Ärztemangel, wird von politischer Seite zunehmend das MVZ als Allheilmittel ins Feld geführt.“ Aktuelles Beispiel dafür ist die SPD-Landtagsfraktion, die sich „für die ärztliche Versorgung im Land ein Investitionsprogramm für medizinische Versorgungszentren in den Kommunen“ wünscht. Doch der Gedanke, dass mehr MVZ quasi automatisch die Versorgung verbessern, greift aus Lassens Sicht „erschreckend zu kurz. Denn es fehlen Ärztinnen und Ärzte – und nicht die Gesellschaftsform, in der sie ihren Arbeitsplatz finden“.
Dennoch, so Lassen, könnte eine kommunale MVZ-Struktur „in Einzelfällen das entscheidende Puzzleteil sein“, um eine Versorgung zu sichern. Damit ist er mit Jörg Bülow einig, dem Geschäftsführer des Gemeindetags Schleswig-Holstein: Es sei Aufgabe der Gemeinden, Infrastruktur und Lebensqualität zu sichern, und dazu gehöre eben auch die medizinische Versorgung. Die sei, besonders in touristisch geprägten Regionen, auch ein Standortfaktor, so Bülow. Er betont aber auch, dass die Gemeinde diese Aufgabe nur annehmen sollte, „wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt“.
Denn Gesundheitsversorgung ist, anders als der Bau von Kitas oder der Betrieb von Schulen, keine ureigene Aufgabe der Gemeinden. Daran sollte sich auch nichts ändern, lautet die einhellige Meinung aller Beteiligten. „Wir sollten alle gemeinsam ein Interesse daran haben, dass Arztpraxen weiterhin freiberuflich-inhabergeführt bleiben, um unabhängig arbeiten zu können“, sagt Lassen. „Die Kolleginnen und Kollegen mit dem Wunsch nach Anstellung werden ihre Arbeitsplätze in den größeren Praxen schon finden.“ Auch das Kieler Gesundheitsministerium hält Eigeneinrichtungen der Gemeinden oder kommunale MVZ nur „zur vorübergehenden Sicherstellung“ der Versorgung für sinnvoll.
Auf Helgoland wären die Sicherstellungsprobleme ohne ein kommunales MVZ schwer zu lösen. Das Zentrum, seit Februar 2025 dauerhaft im Gartengeschoss der Nordseeklinik, feierte kürzlich sein fünfjähriges Jubiläum. Möglich wurde der neue, moderne Standort nur dank des finanziellen Engagements der Kommune. Bürgermeister Torsten Pollmann gab zum Jubiläum zu bedenken: „Die Gemeinde Helgoland hat erheblich investiert, um die hausärztliche Versorgung sicherzustellen – eine Aufgabe, die eigentlich nicht in kommunaler Verantwortung liegt. Ähnlich herausfordernden Situationen müssen sich alle Gemeinden in Schleswig-Holstein mit kommunal getragenen Zentren stellen.“ Auch Imke Kraatz, Geschäftsführerin des Gesundheitszentrums Helgoland gGmbH, findet: „Die Gemeinde hat hier ein starkes Zeichen gesetzt. Trotz der freiwilligen Übernahme der hausärztlichen Versorgung wurde hier zukunftsorientiert investiert, um die medizinische Versorgung nachhaltig zu sichern.“ Dr. Svante Gehring, Vorstandssprecher der Ärztegenossenschaft, stellt aber auch für Helgoland klar: „Das Ziel bleibt es, mittelfristig eine Reprivatisierung der kommunalen Einrichtungen zu erreichen. Genauso, wie es uns in Büsum bereits gelungen ist.“
Die KVSH stand der Idee kommunaler MVZ von Anfang an wohlwollend gegenüber, was auch die vergleichsweise hohe Zahl solcher Einrichtungen im Land erklärt. Aber jedes kommunale MVZ müsse „perspektivisch die Möglichkeit bieten, dass die Ärztinnen und Ärzte vom Angestelltenstatus in die Selbstständigkeit wechseln können“, sagt ein Sprecher.
Jörg Bülow stellt im Namen des Gemeindetags klar: „Ziel sollte stets sein, dass ein kommunales MVZ perspektivisch wieder in die Hände der Ärzteschaft überführt wird“. Das idealtypische Beispiel liefert die Gemeinde Büsum, die die Trägerschaft für ihre kommunale Eigeneinrichtung – der Unterschied zum kommunalen MVZ liegt darin, dass es für die Eigeneinrichtung eine Zustimmung der KV braucht – nach rund zehn Jahren aufgab. Die drei bisher angestellten Ärzte Dr. Klaas Lindemann, Kerstin Weiser-Hagelstein und Astrid Ewald übernahmen die Leitung selbst.
Wenn also kommunale MVZ bestenfalls eine Übergangslösung sein sollen, braucht es sie überhaupt? Jein, sagt Susanne Müller vom Bundesverband der MVZ: „Der Betrieb einer Gesundheitseinrichtung ist für Gemeinden ein fachfremdes Gebiet. Da gibt es auf lokaler oder regionaler Ebene oft andere Akteure, die das besser können, etwa die örtlichen Kliniken.“ Der Verband wünscht sich eine bunte Trägerlandschaft, etwa Apotheken oder Physiotherapiepraxen. Das ist zurzeit nicht vorgesehen, aber wichtig blieben solche Akteure. „Um die Versorgung zu sichern, braucht es einen ganzen Instrumentenkasten aus Maßnahmen. Das kommunale MVZ ist ein denkbares, aber in vielen Fällen nicht das richtige Werkzeug aus diesem Kasten.“
Dennoch können Gemeinden viel tun, um Ärzte in die Region zu holen: „Das reicht von der Unterstützung bei der Suche nach Wohnungen, Kita-Plätzen oder einem Job für den Lebenspartner über die Bereitstellung von Praxisräumen zur Miete“, sagt Bülow. Die KVSH bietet Hilfen an: „Wir setzen auf eine offene Kommunikation mit den Kommunen und suchen gemeinsam – auch mit dem Land – nach flexiblen Lösungen.“
Die Kommunen selbst können dafür die flankierenden Strukturen schaffen. Besonders weit ist der Kreis Dithmarschen, der den Posten eines Koordinators für die hausärztliche Versorgung geschaffen und in diesem Frühjahr neu besetzt hat: Hartmut Behlau, bisher in der Kreisverwaltung für das Hausärzte-Programm „Landgang“ zuständig, übernahm die Aufgabe von Harald Stender, dem früheren Geschäftsführer der Westküstenkliniken.
Hoffnung setzen Fachleute auf die anstehende Entbudgetierung der Hausarztpraxen, die sich in Schleswig-Holstein deutlich bemerkbar machen sollte. Das könnte die Arbeit lukrativer machen – und damit den Schritt in die Selbstständigkeit erleichtern. Denn Vorteile habe es, Herr oder Herrin der eigenen Praxis zu sein, sagt Hamann: „Man darf mehr entscheiden. Außerdem konnte ich, nach einem kurzen Anruf beim Kollegen der Nachbarpraxis, spontan mal blau machen. Das geht als Angestellter nicht mehr.“
Esther Geißlinger