Lavanya Honeyseeda

Genitalverstümmelung aus der Tabuzone geholt

Lamia war acht Jahre alt, als ihre unbeschwerte Kindheit endete. Sie spielte an jenem Tag mit ihren Freundinnen und Cousinen auf dem Hof ihres Elternhauses im Nord-Sudan, als zwei fremde Frauen ankamen. „Sie haben mich in ein Zimmer mitgenommen“, beschreibt die Mutter von drei Kindern, die heute in Schleswig-Holstein lebt. „Vorher war meine Schwester dran, ich musste zusehen. Es war so viel Blut, ich kann das Bild nicht aus meinem Kopf löschen.“ Dann zerstörten die Beschneiderinnen Lamias Klitoris. Die Folgen, so berichtet sie in einem Podcast der Kieler Beratungsstelle „Tabu“, begleiten sie seither ständig: „Ich bin erwachsen, aber die Schmerzen in meinem Herzen bleiben. Eine wichtige Sache ist weg.“

Wie viele Frauen in Schleswig-Holstein Opfer einer Genitalverstümmelung oder -beschneidung sind, ist nicht genau bekannt. Aber es gibt Schätzzahlen, unter anderem von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Sie geht von bundesweit 103.900 Frauen aus, die eine Beschneidung erlebt haben. Dazu kommen geschätzt bundesweit 17.200 Mädchen, denen die Female Genital Mutilation/Cutting (FGM) noch drohen könnte, etwa wenn sie in den Ferien in ihr Herkunftsland reisen. Die Mitarbei­terinnen von „Tabu“ haben daraus eine Zahl für Schleswig-Holstein berechnet: 461 hier lebenden Mädchen könnte die Beschneidung drohen. 

Auf ihr Schicksal weist die Aktion „461 Hands“ hin, bei der Menschen in Schleswig-Holstein den betroffenen Mädchen symbolisch die Hand reichen. Dazu sammelt die Beratungsstelle, die in Trägerschaft der Diakonie Altholstein ist, zurzeit Fotos von Händen. Aus diesen Bildern soll am Ende ein Plakat entstehen. Prominente aus Landespolitik und Kultur unterstützen die Aktion als „starke Stimmen“, die sich öffentlichkeitswirksam gegen die rituelle Beschneidung aussprechen.

Verboten, aber in vielen Ländern immer noch weit verbreitet
Das Verfahren ist in mehreren afrikanischen Ländern immer noch weit verbreitet, auch wenn es vielerorts offiziell verboten ist. „Bei Patientinnen aus Ländern wie Somalia oder Uganda muss man damit rechnen“, sagt Doris Scharrel, Landesvorsitzende des Bundesverbandes der Frauenärzte. 

Sie rät zu einem gelassenen Umgang mit den betroffenen Frauen. Denn für viele sei der Zustand ihrer Genitalien normal, einige seien regelrecht stolz darauf: „Sie zeigen damit, dass sie ehrbare Frauen sind, denn Prostituierte sind nicht beschnitten.“ Daher sei Mitleid oder Entsetzen unangebracht: „Die Frauen kommen in der Regel nicht wegen der Beschneidung, sondern zu normalen Untersuchungen oder Schwangerschaftsvorsorge. Man bespricht mit der Frau, was sie braucht.“

Der Berufsverband befasst sich auf Bundesebene mit dem Thema, unter anderem gab es eine Kooperation mit Somalia für den Bau einer Klinik. Doch zurzeit passiere wenig, bedauert Scharrel. So bieten einzelne Landesverbände, etwa bei ihren Gynäkologentagen, Fortbildungen zum Thema an, aber es gibt keinen regelmäßigen Austausch. 
Dr. Annette Ballhorn dürfte eine der Medizinerinnen und Mediziner im Land sein, die am häufigsten Frauen mit rituellen Genitalverletzungen sehen. Als Oberärztin im Friedrich-Ebert-Krankenhaus (FEK) in Neumünster ist sie für die Erstuntersuchungen und Gutachten der Geflüchteten zuständig, die in der Erstaufnahme des Landes in Neumünster untergebracht werden. Ihre Gutachten, die auch den Zustand der Genitalien beschreiben, sind ein wichtiger Baustein für das Asylverfahren der Frauen.

Nach der Erstuntersuchung keine Informationen mehr
Aber auch Ballhorn fehlt die Vernetzung: „Ich sehe die Frauen in der Regel einmal, und was weiter passiert, weiß ich nicht. Sind meine Gutachten hilfreich, wie geht es den Frauen später – all das erfahre ich nicht.“ 

Sie kann sich noch genau an ihre erste Begegnung mit einer beschnittenen Frau erinnern: „Das war während meiner eigenen Ausbildung in der Klinik. Die Assistenzärztin war völlig überfordert und rief das halbe Team zusammen, um sich den Fall anzuschauen. Für die Patientin alles andere als schön, das ist also nicht ideal gelaufen.“
Heute ist Ballhorn bei der AG Fide engagiert, einem bundesweiten Netzwerk für „Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit“. Der Verein fördert die 
Zusammenarbeit zwischen Personen und Organisationen in Deutschland und den Ländern des globalen Südens, weist auf die besonderen gesundheitlichen Bedürfnisse 
von Frauen hin, veranstaltet Tagungen und Fortbildungen. Für die Arbeit in Klinik oder Praxis sei ein „Umgang auf Augenhöhe“ mit den Patientinnen am wichtigsten, sagt Ballhorn. 

Politische Unterstützung gibt es über Parteigrenzen hinweg
Eine Anlaufstelle für betroffene Frauen jenseits der ärztlichen Versorgung ist seit 2019 die Beratungsstelle „Tabu“ mit Sitz in Kiel-Gaarden. Sie wurde zunächst von der „Aktion Mensch“ gefördert, in diesem Jahr erhält die Diakonie Altholstein eine Fördersumme aus dem Bundeshaushalt. Dafür hat sich besonders die Kieler FDP-Bundestagsabgeordnete Gyde Jensen-Bornhöft eingesetzt, sie ist auch Schirmherrin der Beratungsstelle. 

Doch politische Unterstützung gibt es über alle Parteigrenzen hinweg: „Wir sind nicht bereit wegzusehen, wenn auf grausame Art Frauenrechte verletzt werden“, sagte Seyran Papo, Landtagsabgeordnete der CDU. Ihre Parlamentskollegin und SPD-Landesvorsitzende Serpil Midyatli erklärte: „Wir setzen uns dafür ein, dass die Arbeit nicht nur befristet stattfindet. Es braucht eine dauerhafte Finanzierung, denn die betroffenen Mädchen und Frauen brauchen nicht nur einmal Hilfe, sondern auch in Zukunft.“ 
Beide Politikerinnen hielten ihre Grußworte am Internationalen Tag gegen Genitalverstümmelung bei einer Veranstaltung auf dem Alten Markt in Kiel, die von einer Kunstperformance (Fotos auf Seiten 20 und 21) auf dem Platz begleitet wurde.

Die Solidarität und das Sprechen über Beschneidung seien wichtig, sagt Renate Sticke. Leiterin von „Tabu“. Denn für die betroffenen Frauen sei Sexualität und alles, was damit verbunden ist, sehr schambehaftet.So nähern sich die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle dem Thema ganz allmählich: In den ersten Gesprächen stehen allgemeine Gesundheitsfragen und familiäre Sorgen im Mittelpunkt. Es gilt, Vertrauen aufzubauen. Tatsächlich sei die Genitalbeschneidung für viele Frauen gar keine zentrale Frage: „Sie haben andere Probleme, etwa mit dem Aufenthaltsstatus, mit der Sprache oder der Arbeitssuche“, berichtet Sticke. „Wir fragen nie danach, ob eine Frau beschnitten ist. Zu uns dürfen alle Frauen kommen – und die Männer ebenfalls.“ 

Denn nur mit Vätern, die die Beschneidung ihrer Töchter ablehnen, und jungen Männer, die sich unbeschnittene Frauen als Partnerinnen wünschen, lässt sich die grausame Praxis irgendwann beenden. Einige der Frauen, die schon eine Weile in Deutschland leben, möchten eine Öffnung der vernähten Scheide oder eine Rekonstruktion der Klitoris. „Wir begleiten zurzeit sieben Frauen auf diesem Weg“, sagt Renate Sticke.

Krankenkassen zahlen Wiederherstellung bei gesichertem Aufenthaltsstatus
Die Beratungsstelle arbeitet mit dem Zen­trum für rekonstruktive Chirurgie am Loui­senhospital Aachen zusammen. Der dortige Chefarzt Dr. Dan mon O’Dey ist auf diese Operation spezialisiert, er hat eine eigene Methode der Wiederherstellung entwickelt. Die Kosten der Behandlung und Operation übernimmt die Krankenkasse, die Bedingung ist, dass die Frauen in Deutschland einen gesicherten Aufenthaltsstatus erhalten haben. Jenseits des Eingriffs bedeutet die Rekonstruktion für die Frauen auch eine innere Entwicklung, berichtete Sticke: „Es tauchen immer wieder auch Zweifel auf, es gibt Ängste, wie die Familie darauf reagiert.“

In diesem Jahr hat „Tabu“ aus den Bundesmitteln ein vergleichsweise üppiges Budget von 300.000 Euro zur Verfügung und will damit die Arbeit ausweiten. Neben Beratungen sollen Zeit und Geld in Aufklärungskampagnen und in die Zusammenarbeit zwischen den Gruppen und Personen fließen, die mit den beschnittenen Frauen zu tun haben.
Esther Geisslinger