Dr. Jens Lassen

Stimmung auf dem Tiefpunkt

Interview In den Hausarztpraxen in Schleswig-Holstein herrscht schlechte Stimmung, weil die Rahmenbedingungen für alle im Praxisteam immer schwieriger werden. Eine HVM-Änderung in Schleswig-Holstein droht die Situation weiter zu verschärfen. Über die Hintergründe sprach Dirk Schnack mit dem Landesvorsitzenden des Hausärzteverbandes, Dr. Jens Lassen. 

Die Stimmung in den hausärztlichen Praxen insgesamt hat sich in den vergangenen Monaten verschlechtert – das haben Sie in einer Pressemitteilung deutlich gemacht. Macht die hausärztliche Tätigkeit keine Freude mehr?
Dr. Jens Lassen:
Doch, das macht sie. Wir haben im Grundsatz einen richtig guten Beruf. Jetzt setzt sich aber tatsächlich mehr und mehr der Frust durch. Die Stimmung in den Praxen ist an einem Tiefpunkt angekommen, den man mit Sorge auch so wahrnehmen und benennen sollte. 

Woran liegt das?
Lassen:
Man muss die Zusammenhänge sehen. Wir haben in den Hausarztpraxen eine richtig anstrengende Pandemie hinter uns mit unzähligen Impfungen, Infektsprechstunden, Abstrichen, gestressten Patientinnen und Patienten und einem riesigen Berg Arbeit, den wir bewältigt haben. Die Praxisteams haben ständig 120 % gerissen. Diese Belastung mischt sich jetzt mit der offenkundig vorhandenen mangelnden Anerkennung dieser Arbeit auf Seiten der politisch Verantwortlichen, aber auch der Krankenkassen. Das ist für die Teams maximal demotivierend. Ich kann die Gründe gern auszugsweise zitieren, auch wenn ich sie eigentlich selbst schon nicht mehr hören kann: Keine Kompensation für Inflation, Energiekosten und Gehaltssteigerungen des Praxispersonals, munteres Durchziehen sinnloser Regresse, eine stümperhafte Digitalisierung des Gesundheitswesens.

Sie sprechen die Sichtweise der Krankenkassen an. Was erwarten Sie von den Kassen?
Lassen:
Die Sichtweise der Kassen zur Steigerung des Orientierungspunktwertes kann man niemandem mehr zumuten, das wirkt wie eine moderne Interpretation von Sozialneid. Es ist ein Skandal, dass die unentbehrliche Arbeit der Praxisteams noch immer nicht angemessen vergütet wird. Parallel bekommen wir nicht funktionierende elektronische Patientenakten und ein halbfertiges elektronisches Rezept vorgesetzt. Ich nenne das immer Bananenware: Reift beim Kunden. Was allerdings schon gut funktioniert, ist die Androhung der Honorarkürzung, falls die Praxen diese Sachen nicht mitmachen. Ich will auf den Punkt hinaus, dass die Schere zwischen der elementaren Bedeutung der Hausarztmedizin für die Menschen und dem Willen der Politik, uns auch dementsprechend zu unterstützen, so weit auseinander ist, wie noch nie zuvor. Das ist gefährlich.

Das ist ein ganzer Strauß an Problemen, die nicht alle nur die hausärztlichen Praxen und nicht nur Schleswig-Holstein betreffen, sondern alle niedergelassenen Ärzte bundesweit. Sie haben sich jetzt aber speziell mit einer Mitteilung des Landesverbandes zu Wort gemeldet. Was ist aus Ihrer Sicht das für die Hausärzte in unserem Bundesland drängendste Problem und wie lässt sich das lösen?
Lassen:
Wir brauchen die eindeutige Willensbekundung der Politik, die Hausarztpraxen zu unterstützen. Konkret meine 
ich damit die Entbudgetierung unserer Leistungen nach dem Vorbild der Kinder- und Jugendärzte. In der Realität sind wir aber seit Juli mit dem neuen Honorarverteilungsmaßstab der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH)konfrontiert, der, um es noch irgendwie freundlich auszudrücken, Versorgerpraxen abstraft und allen Praxen durch die Bank reale Honorarverluste beschert. Draußen vor der Praxis steht die lange Patientenschlange und drinnen wissen die Kolleginnen und Kollegen, dass sie jetzt zeitweise für 20 % des vorgesehenen Honorars arbeiten müssen. Bingo. 

Der HVM ist ja nur ein Instrument, über das begrenzte Mittel verteilt werden. Wenn eine Gruppe entlastet wird, müssen andere dies ausgleichen. Wie wollen Sie verhindern, dass es zu einem Gegeneinander der Fachgruppen, wie wir es aus anderen Regionen oft hören, kommt?
Lassen:
Niemand, und insbesondere auch nicht der Hausärzteverband, hat ein Interesse daran, die gemeinsame Front der Fachgruppen gegenüber Politik und Krankenkassen aufzubrechen, denn dort finden sich die Probleme. Wir werden nur gemeinsam erfolgreich sein. Ich habe allerdings im Hinblick auf die Entbudgetierung ein gesundes Selbstbewusstsein für die grundversorgenden Hausarztpraxen. Der Bundesgesundheitsminister hat das mehrfach angekündigt, das Vorhaben steht im Koalitionsvertrag und muss jetzt kommen.

Damit insgesamt mehr Geld ins System kommt, fahren Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), KVen und Verbände – auch Ihr Verband – auf Bundesebene eine Kampagne. Halten Sie das für Erfolg versprechend?
Lassen:
Wir müssen auf die Probleme aufmerksam machen, daher sind die Proteste richtig. Ganz viele Entscheidungsträger haben längst nicht verstanden, dass es sich nicht um Befindlichkeitsstörungen einer wohlsituierten Berufsgruppe handelt, sondern um eine echte Bedrohung der Struktur der Arztpraxen in Deutschland. Wenn sich in der Politik nichts ändert, wird sich im nächsten Schritt sehr viel für die Patientinnen und Patienten ändern.

Sie haben viel Kontakt mit jungen Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht niedergelassen sind, aber durchaus Interesse 
zeigen. Welche Signale kommen bei denen 
an?
Lassen:
Es wird heute niemand als Verlegenheitslösung Hausärztin oder Hausarzt. Unsere jungen Kolleginnen und Kollegen sind motiviert, gut ausgebildet und haben eigentlich total Lust, in den Praxen diesen tollen Beruf auszuüben. Die nehmen aber natürlich sehr genau wahr, dass von der Medizinischen Fachangestellten (MFA) bis zur Hausärztin alle auf dem Zahnfleisch gehen, sie von morgens bis abends ackern und halbwegs schon nicht mehr riskieren, das KVSH-Nordlicht oder Twitter zu lesen, weil da nur noch berufspolitische Horrornachrichten verkündet werden. Es ist bitter zu sehen, wir sehr das demoralisiert. 

Was passiert, wenn nichts passiert? Wenn also die Hausärzte nicht wie von Ihnen gefordert entlastet werden? 
Lassen:
Das werden vor allem die Patientinnen und Patienten zu spüren bekommen. Man muss immer wieder daran erinnern, dass rund ein Drittel der Hausärztinnen und Hausärzte in den nächsten Jahren in den Ruhestand geht. Die derzeit vorherrschende Stimmung wird vor allem zu einem führen: Dass immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte eine Praxis führen wollen. Und niemand weiß besser als die Menschen draußen, dass es schon jetzt total schwer ist, eine Hausarztpraxis zu finden, die überhaupt noch neue Patientinnen und Patienten aufnehmen kann.

Diese Argumentationskette ist in der Standespolitik über ein Jahrzehnt so vehement vorgetragen worden, dass es irgendwann als komplett unattraktiv galt, sich der Allgemeinmedizin zuzuwenden. Bergen solche Hinweise auf Defizite oder die Betonung der finanziellen Probleme also auch immer die Gefahr, dass sich die Nachwuchssorgen im hausärztlichen Bereich noch mehr verstärken?
Lassen:
Leider ja. Aber wir können die aktuellen Defizite doch schon längst nicht mehr verstecken, selbst wenn wir wollten.

Wie kann eine Balance gelingen – Forderungen adressieren, ohne den Nachwuchs zu verschrecken?
Lassen:
Ich würde den Spieß umdrehen. Wir müssen unsere berechtigten Forderungen gerade deswegen weiter so klar adressieren und am Ende damit erfolgreich sein, um den jungen Kolleginnen und Kollegen weiter ein Arbeitsumfeld in den Praxen bieten zu können, in dem sie gern arbeiten möchten.

Sie haben nicht nur Nachwuchssorgen im Hinblick auf Praxisnachfolger, sondern auch beim Praxispersonal. Die mangelnde Wertschätzung für die von den MFA geleistete Arbeit haben Sie bereits angesprochen. Wie ist zu erklären, dass diese wichtige Arbeit von der Politik ignoriert wird?
Lassen: Es
war ja schon peinlich, wie die MFA beim Corona-Pflegebonus der Politik in jeder Runde wieder vergessen wurden, während die Praxisteams der Impfkampagne zu ihrem Erfolg verholfen haben. Ich nenne das: mangelnde Wertschätzung seitens der Politik. Der Stellenwert der Praxen wird offenbar nicht verstanden

Könnten auch die Praxisinhaber als Arbeitgeber mehr tun?
Lassen:
Wir haben die vorhandenen Mittel wie Corona-Bonus oder Inflationsausgleichsprämie als Arbeitgeber genutzt, um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu unterstützen. Jeder Hausärztin und jedem Hausarzt ist klar, was er in seinem Beruf ohne MFA erreichen kann: gar nichts.

Vielen Dank für das Gespräch.