DAK

Das dunkle Kapitel der Kinderkurheime

Ich war sieben Jahre alt, habe erbrochen und musste es aufessen.“ Schilderungen wie diese von ehemaligen „Verschickungskindern“ haben in den vergangenen Wochen die Öffentlichkeit aufgerüttelt und auf Missstände in Kinderkurheimen und -kliniken in ganz Deutschland, auch in Schleswig-Holstein, aufmerksam gemacht. Die beschriebenen Zustände betreffen nicht nur die unmittelbare Nachkriegszeit, sondern zum Teil mehrere Jahrzehnte. 

Anlass für die aktuelle Aufmerksamkeit ist eine Publikation des Bielefelder Historikers Prof. Hans-Walter Schmuhl, der im Auftrag der DAK-Gesundheit die Geschichte dieser Kinder aufgearbeitet und dafür mit Betroffenen gesprochen hat. Der DAK-Bundesvorsitzende Andreas Storm entschuldigte sich bei der Veröffentlichung der Studie in Berlin öffentlich bei allen Betroffenen. Die DAK war aber nur einer der zahlreichen Kostenträger, die damals Kinderkurheime und -kliniken betrieben. Storm sprach in diesem Zusammenhang von einer dunklen Seite seiner Kasse und sagte: „Die dokumentierten Missstände in Kinderkurheimen sind mit unseren Werten in keiner Weise vereinbar. Wir verstehen es als unsere Aufgabe und Verpflichtung, das Leid der Betroffenen anzuerkennen, die Missstände historisch aufzuarbeiten, den Dialog zu suchen und unserer Verantwortung gerecht zu werden. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, alle, die in den Kinderkuren Leid erfahren haben, im Namen der DAK-Gesundheit von ganzem Herzen um Entschuldigung zu bitten.“

Die in den Heimen untergebrachten Kinder waren oft nicht nur einsam, litten unter Heimweh und Verlustängsten. Sie erfuhren eine strenge Erziehung, viele von ihnen aber auch Gewalt und Demütigungen, vereinzelt sexuelle Übergriffe. Manche von ihnen leiden bis heute unter den Folgen wie etwa sozialer Phobie oder Emetophobie. In welchem Ausmaß manche Kinder gelitten haben müssen, zeigt das von Schmuhl beschriebene Spektrum an angewendeten Gewaltformen. Dies reichte von rigider Abschottung von der Außenwelt über die Wegnahme persönlicher Gegenstände bis zu Drohungen, Herabsetzungen, Einsperren, Schlägen, Eintrichtern von Erbrochenem und sexuellen Übergriffen. 

„All dies verursachte tiefe Verletzungen des Selbst, die mit sehr starken Emotionen, insbesondere mit überwältigenden Schamgefühlen verbunden waren und die auch nach der Kur lange, in manchen Fällen bis heute nachwirken“, sagte Schmuhl. Er vertritt die These, dass Kinder ohne sichere Bindung zu ihren Eltern in den Heimen besonders stark betroffen waren.

Bundesweit waren über mehrere Jahrzehnte rund zehn Millionen Kinder in den Heimen – davon rund 450.000 über die DAK, die eigene Kinderkureinrichtungen auf Sylt, im Schwarzwald und in Bad Sassendorf unterhielt und außerdem mit insgesamt 65 Vertragsheimen zusammenarbeitete. 2020 hatte sich die DAK als erste Krankenkasse zur Aufarbeitung der Geschehnisse in den Heimen verpflichtet.

Historiker Schmuhl sprach von einer „Subkultur der Gewalt“, die ihren Nährboden durch das Ineinandergreifen von pädagogischen Vorstellungen der Erzieher, strukturellen Faktoren und dem Kinderkurkonzept fand. Er verglich die Erfahrungen der Verschickungskinder mit denen der Betroffenen in anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Psychiatrie und Behindertenhilfe in den gleichen Jahrzehnten. 

Die Initiative Verschickungskinder und deren Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickungen e.V. hatte Schmuhl bei der Forschung mit Akten und Gesprächsvermittlungen unterstützt. Sie sieht in der vorgelegten Studie einen „vielversprechenden Anfang“. Prof. Christiane Dienel, selbst ehemaliges Verschickungskind, erwartet von der Bundesregierung, den Ländern und den Trägern die Anerkennung des Leids und die Aufarbeitung der Geschehnisse.
Der baden-württembergische Gesundheits- und Sozialminister Manne Lucha betonte als amtierender Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz der Länder die Bedeutung der von der DAK in Auftrag gegebenen Aufarbeitung. In Luchas Ministerium kommt seit 2020 ein Runder Tisch Verschickungskinder zusammen. Er forderte, dass weitere Akteure dem Vorbild der DAK folgen sollten. 
Dirk Schnack