Gemeinsame Handlungsempfehlung zur Verordnung und Abgabe von Benzodiazepinen und deren Analoga
Indikationen und Nebenwirkungen von Benzodiazepinen
Benzodiazepine sind nur bei Angst-, Spannungs- und Erregungszuständen und zur Kurzzeitbehandlung zugelassen. Sie werden oft länger verordnet als nötig. Clonazepam ist zur Ergänzung der Behandlung cerebraler Krampfanfälle zugelassen und darf langfristig verordnet werden. Es ist eines der beliebtesten Benzodiazepine auf dem Schwarzmarkt. Folgen eines längerdauernden Konsums aller Benzodiazepine können eine Einschränkung von Gedächtnis und Merkfähigkeit, Muskelschwäche und Koordinationsstörungen sowie eine Gefühlsverflachung sein. Insbesondere bei älteren Menschen kann es zu Stürzen oder zum Bild einer „Scheindemenz“ kommen.
Hinweise zur Verschreibung von Benzodiazepinen
Es ist Folgendes zu beachten:
- Die „4 K’s“: Klare Indikation / Korrekte Dosierung / Kurze Anwendung / Kein abruptes Absetzen nach längerem Gebrauch
- Nach der Arzneimittelrichtlinie Anl. III Nr. 32 und 45 ist die Anwendungsdauer von Benzodiazepinen/Tranquillantien grundsätzlich auf 4 Wochen begrenzt. In medizinisch begründeten Einzelfällen darf länger verordnet werden. Die Therapie mit Benzodiazepinen muss daher sorgfältig dokumentiert werden.
- Benzodiazepine sollen grundsätzlich nur nach persönlichem Kontakt mit dem Patienten verordnet werden. Die Verordnung in einer Videosprechstunde kommt nur im Ausnahmefall in Betracht.
- Eine langfristige Verordnung von Benzodiazepinen z.B. bei schweren psychiatrischen Erkrankungen oder bei Patienten mit einer Abhängigkeit, die entzogen werden oder bei denen der Entzug derzeit nicht möglich ist, setzt eine engmaschige, regelmäßige Überprüfung des therapeutischen Nutzens und der aufgetretenen Nebenwirkungen voraus und soll grundsätzlich psychiatrisch gesichert sein.
- Die Indikation zur Verordnung von Benzodiazepinen ist für Privat- und Kassenpatienten gleich. Wenn sie indiziert ist, ist bei Kassenpatienten ein Ausweichen auf Privatrezept nicht zulässig. Wenn sie nicht indiziert sind, darf es weder auf Kassen- noch auf Privatrezept verordnet werden. Ggf. ist damit eine Verletzung vertragsärztlicher bzw. berufsrechtlicher Pflichten verbunden.
- Patienten müssen über die Zweckmäßigkeit der Behandlung, über Wirkungen, Nebenwirkungen, Abhängigkeitspotential, die geplante Behandlungsdauer und Behandlungsalternativen aufgeklärt werden.
- Bei der Verschreibung sollte die Halbwertszeit des Benzodiazepins berücksichtigt werden. Benzodiazepine mit langer Wirkdauer mit hohem Kumulationsrisiko (z.B. Diazepam) oder mit einem höheren Abhängigkeitsrisiko (z.B. Alprazolam und Lorazepam) sollten vermieden werden.
- Ärzte, die vertretungsweise verordnen, sollen die Angaben der Patienten überprüfen und grundsätzlich nur die kleinste Packungsgröße verschreiben oder notfalls nur die für die Überbrückung notwendige Anzahl von Tabletten abgeben lassen. Es muss beachtet werden, dass manche Patienten sich von mehreren Ärzten Benzodiazepine verschreiben lassen.
- Ärzte dürfen nach § 7 Abs. 8 Berufsordnung einer missbräuchlichen Anwendung ihrer Verschreibung keinen Vorschub leisten.
Umgang mit Arzneimittelmissbrauch aus Sicht der Apotheke
Apotheker tragen eine besondere Verantwortung im Umgang mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Neben der ordnungsgemäßen Abgabe von Arzneimitteln müssen sie gemäß § 17 Abs. 8 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) auch wachsam gegenüber Anzeichen von Missbrauch sein. Gleichzeitig unterliegen sie strengen strafrechtlich- und datenschutzrechtlichen Vorgaben, insbesondere in Bezug auf die Vertraulichkeit von Gesundheitsdaten. Dies stellt Apotheker vor die Herausforderung, Verdachtsfälle aufzuklären, ohne gegen rechtliche Bestimmungen wie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und § 203 des Strafgesetzbuches (StGB) zu verstoßen.
Die DSGVO regelt den Schutz personenbezogener Daten und legt strenge Maßstäbe an die Verarbeitung von Gesundheitsdaten (Art 9 DSGVO) an. Apotheker dürfen personenbezogene Daten, zu denen auch Informationen über Medikamentenkäufe gehören, nur unter bestimmten Voraussetzungen verarbeiten.
Dies ist in der Regel nur erlaubt, wenn entweder die betroffene Person eingewilligt hat, der Schutz lebenswichtiger Interessen betroffen ist, oder eine gesetzliche Verpflichtung besteht (bspw. Meldung an die Arzneimittelkommission). Bei einem Missbrauchsverdacht bedeutet dies, dass Apotheker sehr sorgfältig abwägen müssen, ob und welche Daten sie verarbeiten. Außerdem unterliegen Apotheker der Schweigepflicht (§ 203 StGB) und dürfen sensible Gesundheitsdaten nur mit Einwilligung des Betroffenen oder bei einer gesetzlichen Ausnahme weitergeben, etwa bei akuter Gefahr für Leib und Leben. Jeder Verdachtsfall erfordert eine sorgfältige Abwägung, auch bei offensichtlichem Missbrauch.
Missbrauchsfälle müssen dokumentiert werden: Nach § 21 ApBetrO ist das Apothekenpersonal verpflichtet, den Apothekenleiter oder einen beauftragten Apotheker unverzüglich zu informieren. Dieser prüft, ob weitere Maßnahmen wie eine Meldung an die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) erforderlich sind.
Umsetzung in der Praxis:
Der erste Schritt sollte darin bestehen, das Gespräch mit dem Patienten zu suchen und das Anliegen diskret anzusprechen. Falls Zweifel bestehen bleiben, kann der Apotheker den verschreibenden Arzt kontaktieren, um die Situation zu klären. Dabei muss jedoch sichergestellt werden, dass die Weitergabe von Informationen auf das Notwendige beschränkt bleibt und der Verdacht einer gesundheitsgefährdenden Verwendung besteht.
Sollte der Patient Verordnungen von mehreren Ärzten für das gleiche Medikament vorlegen, sollte sich immer bei dem Patienten rückversichert werden. Sofern kein plausibler Grund für die Mehrfachausstellung vorgelegt werden kann, sollte die Abgabe verweigert werden. Eine Rückfrage bei allen Ärzten könnte unter Umständen zu rechtlichen Fallstricken führen, da die Mitteilung über die ärztlichen Behandlung des Patienten auch bei anderen Ärzten erfolgen müsste. Ein Kontrahierungszwang besteht bei erkennbarem Missbrauchsverdacht nicht.
Apotheker sollten bei der Verordnung von Benzodiazepinen auch im Hinblick auf Rezeptfälschungen wachsam sein, da gefälschte GKV- und Privatrezepte bei dieser Wirkstoffklasse verstärkt auftreten. Hier empfiehlt es sich, die regelmäßigen Informationen und Hinweise der Apothekerkammer Schleswig-Holstein aufmerksam zu verfolgen und die Apothekenteams entsprechend zu sensibilisieren. Erkennen einer Benzodiazepinabhängigkeit Die Beschwerdebilder bei fortdauernder Einnahme von Benzodiazepinen und deren Analoga sind unspezifisch. Besonders bei Patienten, die gezielt zur Verschreibung von Benzodiazepinen drängen und von Absetzproblemen berichten, ist Aufmerksamkeit geboten.
Therapie der Benzodiazepinabhängigkeit – Entzug
Bei einem Entzug sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
- Nach Möglichkeit sollte der ambulante Entzug gewählt werden – ein stationärer Entzug nur für Patienten, die sich den ambulanten Weg z.B. aufgrund fehlender Unterstützung zu Hause nicht zutrauen oder bei denen schon schwerere Komplikationen bei vorherigen Entzugsversuchen aufgetreten sind.
- Deutliche Symptome des Benzodiazepinentzugs (Unruhezustände, Schlafstörungen, Muskelschmerzen,Zittern, Schwitzen, delirante Zustandsbilder, epileptische Entzugsanfälle sowie Angstzustände) sollen durchlangsames Abdosieren vermieden werden. Psychiatrische Primärerkrankungen können während des Entzugs wieder symptomatisch werden und sind entsprechend zu behandeln. Dies kann den Benzodiazepinentzug verlängern oder unmöglich machen.
- Die Dosis soll grundsätzlich sehr langsam reduziert werden. Die Reduktionsschritte werden mit dem Patienten individuell abgestimmt und festgelegt. Dabei wird berücksichtigt, wie lange der Patient abhängig war und wie motiviert er ist – lieber langsam, aber stetig. Für 10 Jahre Abhängigkeit sollten grundsätzlich mindestens 12 Monate Zeit zum Ausschleichen veranschlagt werden.
- Eine Umstellung auf ein Benzodiazepin mit kürzerer Halbwertszeit und ohne aktiven Metaboliten wird empfohlen: Im ambulanten Bereich ist hierfür Oxazepam das Mittel der Wahl. Im stationären Bereich können Clonazepam oder Diazepam mit einer längeren Halbwertszeit sinnvoller sein, da sie in Tropfenformverfügbar und gerade am Ende der Abdosierung besser titrierbar sind. Diazepam ermöglicht im stationären Bereich einen sanfteren Entzug, birgt jedoch die Gefahr einer Wirkstoffkumulation.
- Bei der Umstellung werden die Benzodiazepin-Äquivalente berücksichtigt (siehe Tabelle auf Seite 9:
https://www.kvwl.de/fileadmin/user_upload/pdf/Mitglieder/Verordnung/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/AG_AMV/benzodiazepine.pdf). Für den Fall, dass mit Oxazepam reduziert wird: Bei einer hohen Benzodiazepindosis sollte zunächst das Benzodiazepin, welches der Patient bisher eingenommen hat, schrittweise bis zu einem Äquivalent von 100 mg/d Oxazepam reduziert werden. Dann erfolgt die Umstellung auf Oxazepam und anschließend das Ausschleichen der Oxazepamdosis. - Eine begleitende Psychotherapie zur Behandlung der möglichen psychischen Grunderkrankung und zurVerbesserung des Copings in der Entzugsbehandlung ist empfehlenswert – hier sollte der Patient jedoch beider Suche nach einem Therapeuten unterstützt werden, da Abhängigkeitserkrankungen häufig als ein Ausschlusskriterium für eine Psychotherapie bewertet werden.
Beratungsangebote für Ärzte und Apotheker
Die erste Anlaufstelle für Menschen mit Abhängigkeitsproblemen ist in der Regel der niedergelassene Arzt oder eine Beratungsstelle. Die Apotheken sollen über Beratungsstellen in ihrer Nähe informiert sein. In Absprache mit dem behandelnden Arzt können Apotheker einen ambulanten Entzug mit fachlicher Kompetenz und motivierenden Gesprächen begleiten.
- Link zu Suchtberatungsstellen für Betroffene und Angehörige:
https://www.suchtberatung-sh.de/
https://suchthilfefuehrer.lssh.de/ - Für Ärzte zum Erkennen und Umgang mit einer Benzodiazepinabhängigkeit:
Fachambulanz Kiel, Tel.: 0431 66840, E-Mail: anja.ebsen@fachambulanz-kiel.de - Für Vertragsärzte zur Klärung von Fragen der Verordnungsfähigkeit:
Pharmakotherapieberatung der KVSH, Tel.: 04551 883 351, E-Mail: cornelius.aust@kvsh.de - Für Apotheker beispielsweise zur Meldung potenzieller Rezeptfälschungen in anonymisierter Form:
Apothekerkammer Schleswig-Holstein, Tel.: 0431 5793510, E-Mail: info@aksh-kiel.de
Weiterführende Literatur
- S3-Leitlinie Medikamentenbezogene Störungen (Version 1.1, Stand: 14.01.2021):
https://register.awmf.org/assets/guidelines/038-025l_S3_Medikamtenbezogene-Stoerungen_2021-01.pdf - Holzbach 5 Phasen Modell:
https://www.medikamente-und-sucht.de/behandler-und-berater/medikamentensicherheit/missbrauch-und-abhaengigkeit/niedrigdosisabhaengigkeit - Arzneimittelmissbrauch: Leitfaden für die apothekerliche Praxis; herausgegeben von der Bundesapothekerkammer (BAK) Berlin, März 2018
https://www.abda.de/themen/versorgungsfragen/medikamentenmissbrauch/ - Lippstädter Benzo-Check:
https://klinikum-hochsauerland.de/kliniken-zentren/unsere-kliniken/psychiatrie-arnsberg-neheim/lippstaedter-benzo-check
Quellennachweis
Die vorliegende Handlungsempfehlung wurde von der KV Hamburg übernommen und in Teilen überarbeitet. Grundlage der Handlungsempfehlung ist der Gemeinsame Leitfaden der Landesärztekammer Baden-Württemberg und der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg mit dem Titel „Verordnung von Benzodiazepinen und deren Analoga“ aus dem Oktober 2008.
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/LeitfadenMedAbhaengigkeit.pdf