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Fahrradsturz mit über­sehenen Folgen

Die Behandlung von Verletzungen nach Sturzereignissen und Umknicktraumata ist häufig Gegenstand von Schlichtungsanträgen. Dabei sind die Gesundheitsbeeinträchtigungen, die durch den Unfall eingetreten sind, von den durch einen Behandlungsfehler verursachten Folgen abzugrenzen. Der vorliegende Fall, den die Schlichtungsstelle zu bewerten hatte, beschäftigt sich mit einem Fahrradsturz, in dessen Folge ein Fremdkörper in den Weichteilen der Mundhöhle zunächst unbehandelt blieb.

Dr. Jessica Siering und Dr. Thomas Demmel

Die Antragstellerin, zum Behandlungszeitpunkt 39 Jahre alt, stürzte mit ihrem Mountainbike bei Überfahrt einer etwa 1,5 m hohen Rampe mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h. Sie trug einen handelsüblichen Fahrradhelm. Nach dem Sturz war sie zunächst bewusstlos (Dauer der Bewusstlosigkeit nicht bekannt); wieder bei Bewusstsein bemerkte sie nach eigener Schilderung Sichteinschränkungen/Sichttrübungen, blutete im Gesicht und hatte Schmerzen in Unterkiefer und Wirbelsäule.

Sie wurde per Rettungswagen in die Zentrale Notaufnahme (Schockraum) einer schleswig-holsteinischen Klinik gebracht. Hier erfolgte zunächst die vollständige traumatologische und neurologische Untersuchung sowie im Anschluss eine Schädel-CT, eine CT der Halswirbelsäule und des Mittelgesichts sowie des Unterkiefers.

Ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) 1. Grades, Prellungen und Hautabschürfungen wurden festgestellt sowie eine ca. 5 mm messende Platzwunde der rechtsseitigen Unterlippe mit leichter bis mäßiger Blutung. In der Beurteilung der CT hieß es: „Keine Blutung intra- u extracerebral, HWS u Kiefer ohne Fraktur. Schürfung mit geringem Lufteinschluss an der Kinnspitze li, hier kleiner Fremdkörper. Kleines Galeahämatom li supraorbital.“

Die Patientin berichtete im weiteren Verlauf wiederholt, dass sie Blut auch im Mund festgestellt hätte. Hierfür wurde die Platzwunde an der Unterlippe als ursächlich angesehen. Von einem Wundverschluss wurde aufgrund der Größe der Verletzung sowie der massiven Schwellung der Unterlippe, die durch Injektion eines Lokalanästhetikums weiter aggraviert worden wäre, abgesehen.

Nach der Verlegung auf die Station stellte die Patientin selbst eine Risswunde in der Mundhöhle am Übergang zwischen Zahnfleisch und Mundschleimhaut fest. Die diensthabende Ärztin erachtete eine Mund-Kiefer-Gesichts-chirurgische Vorstellung für sinnvoll, hielt jedoch eine Vorstellung am nächsten Morgen bei sauberen Wundverhältnissen und ohne aktive Blutung für ausreichend. Bezüglich des im CT-Befund erwähnten Fremdkörpers wurden keine Maßnahmen ergriffen.

Nach Übergabe der Patientin am nächsten Morgen empfahl der nun diensthabende Arzt das Ausspülen des Mundes mit antiseptischer Lösung sowie Vorsicht bei oraler Nahrungsaufnahme. Er fertigte ein Foto von der Wunde und schickte dies an einen befreundeten Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, der laut Stellungnahme des Arztes ebenfalls ein konservatives Vorgehen und Therapie bestätigt hätte.

Drei Wochen nach dem Unfall traten erneut starke Schmerzen auf. Die Antragstellerin begab sich in eine andere Klinik, wo auf den mitgebrachten CT-Bildern vom Unfalltag der Fremdkörper im Unterkiefer geortet wurde. Der ursprüngliche Riss wurde operativ eröffnet und der Fremdkörper entfernt.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Die Antragstellerin warf den behandelnden Ärzten die Unterlassung der zeitnahen Diagnostik und Behandlung der Risswunde mit Fremdkörper im Mundraum vor. Die nach drei Wochen durchgeführte OP habe ihr erneut extreme Schmerzen verursacht, Einschränkungen beim Essen und Sprechen sowie Schwellungen im Gesicht. Sie habe in dieser Zeit rapide an Körpergewicht verloren und wäre unnötigerweise insgesamt sechs Wochen krankgeschrieben gewesen. Ihr Unterkiefer/Kinn sei seitdem taub. Der nicht versorgte Unterlippenriss reiße beim Lachen auf und müsse operativ nachversorgt werden.

Das externe medizinische Gutachten
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter, Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, traf folgende Kernaussagen:
Aufgrund der Unfallanamnese wäre eine primäre intraorale Inspektion im Hinblick auf etwaige enorale Verletzungen indiziert gewesen. Die Versorgung der ca. 5 mm großen Platzwunde an der rechten Unterlippe hätte primär erfolgen sollen. Dabei wäre wahrscheinlich auch die enorale Verletzung (eher) aufgefallen. Des Weiteren hätte aufgrund des radiologisch sichtbaren Fremdkörpers in den paramandibulären Weichteilen links in Kombination mit der unversorgten enoralen Risswunde im Unterkiefervestibulum zeitnah ein mund-, kiefer- und gesichtschirurgisches Konsil zur interdisziplinären Planung der Weiterversorgung erfolgen müssen.

Da die intraorale Wundrevision mit Bergung eines Fremdkörpers aus dem paramandibulären Weichgewebe und anschließender Wundversorgung, die über die Fachgrenzen der Unfallchirurgie und Orthopädie hinausging und in der Facharztkompetenz der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie lag, wäre eine Verlegung in ein Zentrum für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie erforderlich gewesen. Spätestens nach 24-stündiger posttraumatischer Überwachung ohne auffälligen neurologischen Befund hätte die Patientin konsiliarisch in einer Fachabteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vorgestellt werden müssen (ggf. auch telemedizinisch).

Die hier erfolgte interdisziplinäre „konsiliarische Abklärung“ entsprach aus gutachterlicher Sicht keinesfalls dem üblichen Konsiliarwesen bei stationären Patienten. Zudem ging aus den vorliegenden Unterlagen nicht hervor, dass dabei auch auf den auf den radiologisch sichtbaren und im CT-Befund beschriebenen Fremdkörper hingewiesen wurde. Der Gutachter ging jedoch davon aus, dass es auch bei zeitnaher konsiliarischer Hinzuziehung eines Facharztes für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und primärer Versorgung der intra- und extraoralen Wunden (inklusive operativer Fremdkörperentfernung) zu den eingriffsbedingten typischen Schwellungen und Schmerzen gekommen wäre.
Die im Arztbrief dokumentierten „links mental betonten Sensibilitätsstörungen“ hätten ebenfalls bei unmittelbarer primärer Wundversorgung auftreten können, wenn diese, was sehr wahrscheinlich war, nicht bereits initial durch den Unfallmechanismus entstanden waren. Anhand der vorliegenden Unterlagen war es dem Gutachter nicht möglich, eine Aussage über Ausmaß und etwaige Dauer der Beeinträchtigung zu treffen.

Die Patientin führte an, dass sie nach der anfänglichen verletzungsbedingten Einschränkung bis zur „Heilung“ der Wunden für drei Wochen, und später durch die operative Fremdkörperentfernung wieder durch Schmerzen und Schwellungen im Gesicht beeinträchtigt und insgesamt sechs Wochen lang arbeitsunfähig gewesen war. Diese Zeitspanne der Beeinträchtigungen hätte durch eine zeitnahe mund-, kiefer- und gesichtschirurgische Vorstellung und Behandlung auf ca. drei Wochen verkürzt werden können.

Aufgrund der in der später andernorts erhobenen Befunde war davon auszugehen, dass die vorliegende Hypästhesie mental links betont durch den Unfall verursacht wurde, da sie bereits vor der operativen Wundversorgung, bzw. Fremdkörperentfernung bestand.
Eine mögliche Narbenkorrektur der Riss-Quetsch-Wunde im Unterlippenrot hätte auch nach einer initialen Versorgung in der Zentralen Notaufnahme erforderlich werden können.

Die Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle schloss sich dem Gutachten vollumfänglich an.
Als Unfallfolge waren neben dem SHT 1. Grades die Rissverletzungen an der Unterlippe rechts und enoral links sowie der Fremdkörper in den Weichteilen enoral zu werten. Diese Verletzungen im Gesichtsbereich hätten bei der Primärversorgung im Schockraum durch die Behandler erkannt und versorgt werden müssen. Auch im weiteren Verlauf bis zur Entlassung am Folgetag wurde dieses nicht fachgerecht durchgeführt. Eine primäre kieferchirurgische Vorstellung erfolgte nicht. Auch wurde diese nicht von den Primärbehandlern gebahnt. Die Kontaktierung eines Facharztes für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie durch Übersendung eines Fotos der Wunde ohne Mitteilung der vollständigen Befunde konnte jedenfalls nicht als ausreichendes interdisziplinäres Konsil angesehen werden.

Daher kam es zu einer Behandlungsverzögerung von drei Wochen, bis die notwendige kieferchirurgische Behandlung in Form einer Fremdkörperentfernung und Naht des Risses erfolgte. Sie hätte jedoch zeitnah, unmittelbar nach dem Unfallereignis, erfolgen müssen. In dieser Zeit wären bei fachgerechter Primärversorgung die o.g. Verletzungen abgeheilt. Insofern bestand der Schaden für die Antragstellerin in einem nochmaligen Zustand von Schwellung und Schmerzen im Verletzungsgebiet. Ein weiterer sekundärer Schaden war hieraus nicht zu erwarten.

Die ebenfalls von der Antragstellerin angesprochene Korrekturoperation im Bereich des Lippenrots wertete die Schlichtungsstelle als Schaden, der durch den Unfall verursacht wurde und der auch ohne die zu bemängelnde Therapieverzögerung zu einer weiteren Operation hätte führen können. Somit war hierin kein sekundärer Schaden durch die Behandlungsverzögerung zu sehen. Die Taubheit im Bereich der Haut am Unterkiefer musste als unmittelbare Unfallfolge gewertet werden. Ein Zusammenhang mit der Behandlungsverzögerung war nicht erkennbar.

Im Ergebnis waren daher aus Sicht der Schlichtungsstelle Schadensersatzansprüche im dargestellten Rahmen begründet.

Dr. Thomas Demmel ist ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle und Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie.
Dr. Jessica Siering ist Juristin und Leiterin der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen.

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