Brünette Arztpraxismitarbeiterin im türkisen Shirt steht lächelnd am Sonografiemonitor.
Inga Raths ©Eike Lamberty
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Inga Raths ©Eike Lamberty

Pioniere in der Hausarztpraxis

In vielen Regionen fehlen Hausärztinnen und Hausärzte – eine Situation, die sich in den kommenden Jahren kaum verbessern wird. Im Norden Schleswig-Holsteins machen die ersten Allgemeinmediziner vor, wie ein Ausweg aussehen könnte. Sie setzen auf Delegation an einen anderen akademischen Beruf: den Physician Assistant (PA). Anders als bei der Beschäftigung in einer Klinik lassen sich die Leistungen der PA in einer Praxis bislang nicht abrechnen. Warum und für wen es sich trotzdem lohnt, zeigt ein Blick in den Alltag vor Ort.

Eike Ina Lamberty

Wenn der Niebüller Allgemeinmediziner Mark Weinhonig sein Arztzimmer betritt, kann es passieren, dass die wartende Patientin ihn nicht etwa erleichtert, sondern fast ein wenig enttäuscht anblickt. Weinhonig kennt das schon – und es freut ihn. „Die Patientin hatte unsere PA Inga Raths erwartet“, sagt er. Manche fragten schon an der Anmeldung direkt nach ihr. Raths ist eine feste Größe in der Gemeinschaftspraxis mit Dr. Frauke Bantin. 

Enorme Entlastung
„Frau Raths entlastet uns mittlerweile enorm“, sagt Weinhonig. Anders als eine MFA übernehme sie nicht nur vorbereitende Tätigkeiten, sondern könne in Abstimmung mit ihm aufgrund ihrer akademischen Ausbildung am Westküstenklinikum Heide in leichteren Fällen auch Entscheidungen treffen. „Ich mache die Voranamnese, mache meine Notizen, aber über die Therapie entscheidet immer der Chef“, sagt Raths. Die Liste ihrer Aufgaben ist lang und vielfältig: So horcht sie in der Infektsprechstunde Lungen ab, impft, verabreicht Vitaminspritzen, sonografiert, bereitet Laboraufträge vor, bespricht bei der Blutabnahme selbstständig mit der Patientin, wie der aktuelle Zustand ist. Und wie sie Beschwerden und schlechte Blutwerte auch eigenverantwortlich verbessern kann. „Die meisten Patienten mit Rückenschmerzen möchten eine Massage oder Tabletten haben“, sagt die ausgebildete Fitnesstrainerin. „Ich versuche, ihnen freundlich zu sagen, dass das auch anders geht, zum Beispiel mit Faszientraining und Entspannungstechniken. Dass man selbst ein bisschen für sich tun muss.“

„Ich mache die Voranamnese, aber über die Therapie entscheidet immer der Chef."

Inga Raths

Nicht zuletzt wälzt Raths Akten, nimmt den Ärzten den Großteil des zeitintensiven Verwaltungsaufwands ab. Jeden Mittag nach der Sprechstunde prüft sie eingegangene Laborwerte, liest jeden Arztbrief, sortiert unauffällige Befunde und Akten aus, leitet nur die auffälligen mitsamt Behandlungsvorschlag an Weinhonig und Bantin weiter. Ebenso prüft Raths die Sinnhaftigkeit von Medikamentenplänen und Dauerverordnungen und aktualisiert diese. Gerade weil sie nicht Medizin studiert habe, hinterfrage Raths sich dabei besonders sorgfältig, betont Weinhonig. „Wir merken, dass wir in unserer Qualität noch besser werden, weil Frau Raths weiß, dass sie vieles nicht eigenständig kann oder darf und deswegen häufig die genaueren Fragen stellt, als wir es vielleicht für uns tun würden“, sagt er. „Sie hat eine sehr gute Kontrollfunktion für uns.“

Vorfiltern, was wirklich wichtig ist
Eine Entlastung biete die PA auch im Bereich der hausärztlichen Patientenbesuche im Pflegeheim. „Sie kann vorfiltern, was wirklich wichtig ist“, erläutert Weinhonig. Über elektronisches EKG, Bildübertragung und ein elektronisches Stethoskop könne er im Zweifelsfall aus der Praxis  direkt dazugeschaltet werden und eine Entscheidung treffen. „Wir werden involviert in dem Moment, wo unsere ärztliche Expertise gefragt ist.“

Schlanker Arzt im weißen Kittel, Glatze, weißer Vollbart, steht in seinem Sprechzimmer
Mark Weinhonig ©Eike Lamberty

„Die PA unterschreibt keine Rezepte, keine Überweisung, keine Einweisung. Sie darf keine Diagnosen stellen. Alles, was das Haus verlässt, ist meine Aufgabe.“

Mark Weinhonig

Ähnlich beschreibt auch Hans Christian Brall, ärztlicher Leiter des MVZ Dokterhuus in Silberstedt, die Arbeitsteilung. „Unsere PA Tanja Erichsen übernimmt den kompletten Untersuchungsgang. Und erst, wenn sie die rote Fahne hebt, erfolgt der Arztkontakt“, sagt der Allgemeinmediziner und Chirotherapeut. „Wir haben uns während ihrer Ausbildung vor Ort bei uns in der Praxis überzeugen können, was sie macht und wie sie es macht. Und sie macht es gut.“ 

Kopfportrait eines grauhaarigen schlanken Mannes mit Brille
Hans Christian Brall ©privat

„Unsere PA übernimmt den kompletten Untersuchungsgang. Und erst, wenn sie die rote Fahne hebt, erfolgt der Arztkontakt.“

Hans Christian Brall

Einhellig betonen die befragten Ärzte die Möglichkeit, sich intensiver persönlich den schwerer erkrankten Patientinnen und Patienten widmen zu können. „Als Arzt werde ich produktiver, leistungsfähiger“, sagt auch der Elmshorner Hausarzt Kay Krumbiegel. „Für unsere Patienten ist das definitiv ein Schritt nach vorn, für sie wird sich die Lage durch das PA-Modell bessern.“ 

In der Elmshorner Gemeinschaftspraxis von Krumbiegel und seinem Kollegen Mario Andres Lieberei hat PA Hanna Broers ihre eigene Sprechstunde, die Patienten können sich direkt bei ihr einbuchen. 

ein schlanker, brünetter Arzt Mitte 30 sitzt im weißen Poloshirt am Schreibtisch.
Kay Krumbiegel ©privat

„Für unsere Patienten ist das definitiv ein Schritt nach vorn, für sie wird sich die Lage durch das PA-Modell bessern.“ 

Kay Krumbiegel

Wo genau verläuft die Trennlinie zwischen dem zwar akademischen, aber nicht-ärztlichen Medizinberuf PA und dem approbierten Arzt? „Das ist sehr eindeutig“, sagt der Niebüller Weinhonig. „Die PA unterschreibt keine Rezepte, keine Überweisung, keine Einweisung ins Krankenhaus. Sie darf keine Diagnosen stellen. Alles, was das Haus verlässt, ist meine Aufgabe.“ Oder wie es der Elmshorner Kollege Krumbiegel präzisiert: „Die Therapiehoheit bleibt bei mir.“

PA-Studium ist praxisorientiert
Das sechs Semester umfassende PA-Bachelorstudium in Heide ist sehr praxisorientiert. Jeweils eine Woche pro Monat findet akademischer Blockunterricht am Westküstenklinikum statt. Den Großteil der Zeit jedoch arbeiten die angehenden Physician Assistants gemeinsam mit ihren Arbeitgebern in der Praxis an den Patientinnen und Patienten. „Gerade anfangs haben wir viele Patienten parallel abgehört“, sagt Weinhonig. „Dabei konnte ich sehen, wie gut und genau Frau Raths an Patienten arbeitet, ich habe ja gleichzeitig denselben Patienten abgehört.“ 

Vertrauen ermöglicht effiziente Arbeitsteilung
Die gemeinsame Tätigkeit schafft Vertrauen in die Fähigkeiten der Mitarbeiterin – und das scheint einer der Schlüssel zu einer effizienten Arbeitsteilung zu sein. „Wenn jeder gut ausgebildet ist und genau weiß, was er tut, können wir viele Aufgaben delegieren im Vertrauen darauf, dass gute Arbeit geleistet wird“, sagt Dr. Andreas Deimling, Inhaber der Lungenpraxis Schleswig. Das PA-Studium sei für ihn „das Tüpfelchen auf dem i“ der konsequenten Weiterqualifizierung nicht-ärztlicher medizinischer Fachkräfte. „Ich kann mich auf die Befundung durch Frau Westernhagen verlassen, an dieser Stelle bin ich wirklich entlastet.“

Brustportrait eines schlanken, weißhaarigen, lächelnden Mannes mit Brille im dunklen Anzug
Dr. Andreas Deimling ©privat

„Am Ende des Tages sind alle Patientinnen und Patienten gut versorgt und gehen zufrieden aus der Praxis.“

Dr. Andreas Deimling

Nicht nur die hausärztliche Praxis, sondern gerade auch die Pneumologie profitiere vom „Job Sharing“, sagt Deimling. „Wir haben viele delegierbare fachärztliche Leistungen.“ Dazu zählt er unter anderem die Durchführung und Bewertung von Lungenfunktions- und Allergietests oder Röntgenaufnahmen. Dadurch, dass Westernhagen ihm Routineaufgaben wie etwa Kontrolluntersuchungen von Asthma und COPD-Patienten abnehme, habe er mehr Zeit für die Anamnese von neuen Patienten und für persönliche Gespräche mit schwerer erkrankten Menschen, mehr direkten Patientenkontakt. „Am Ende des Tages sind alle Patientinnen und Patienten gut versorgt und gehen zufrieden aus der Praxis.“

PAs schätzen das Kooperationsmodell
Zufrieden äußern sich auch die befragten PAs. „Ich kann die Patienten, die in meine Sprechstunde kommen, gut versorgen und beraten – immer mit den Ärzten im Hintergrund, mit denen ich mich austauschen kann“, sagt Tanja Erichsen, PA im Dokterhuus Silberstedt. Ihre Elmshorner Kollegin Hanna Broers fühlt sich in Anamnese und Beratung „sicher aufgrund des Studiums und der dort erworbenen Kenntnisse“. Sie freue sich, dass sie etwas mehr Zeit als ein Arzt habe, Zusammenhänge zu erklären und individuelle Fragen zu beantworten. Und dass sie, anders als bei der Tätigkeit in einer Klinik, die Patientinnen und Patienten über Jahre begleite, dass sich gegenseitiges Vertrauen aufbaue. Broers, die zuvor in einer Klinik gearbeitet hatte, nennt als weiteren Pluspunkt die geregelten Arbeitszeiten – freie Wochenenden und Feiertage. 

Kopfportrait einer lächelnden weißblonden Frau mit blauem Pulli und roter Brille
Tanja Erichsen ©privat

„Ich kann die Patienten, die in meine Sprechstunde kommen, gut versorgen und beraten – immer mit den Ärzten im Hintergrund, mit denen ich mich austauschen kann.“

Tanja Erichsen

„Hier in der Praxis fühle ich mich zu Hause“, begründet Raths ihre Entscheidung für die Arbeit in der Hausarztpraxis. „Wenn Oma Hansen kommt, dann weiß ich, was Oma Hansen hat. Man kennt ja ihre Geschichte.“ Nur gelegentlich gehe die Kontaktfreudigkeit der Patienten ihr ein bisschen zu weit. „Da wir hier auf dem Land wohnen, stehen manche Patienten direkt vor meiner Haustür.“ Sie fand eine augenzwinkernde Lösung, brachte ein Schild an: „Heute keine Sprechstunde.“ Seitdem sei Ruhe.

Berufsbild bei Patienten kaum bekannt
Einig sind die PAs sich auch über die Schattenseiten ihres Berufs. Zwar würden sie von den Patientinnen und Patienten im Praxisalltag gut akzeptiert, aber: Das Berufsbild sei kaum bekannt, man müsse häufig erklären, was man tue. Wer könne mit der Berufsbezeichnung schon etwas anfangen? „Physician Assistant – wer kann das richtig aussprechen und weiß sofort, was sich dahinter verbirgt?“, fragt Erichsen. „Mit der Berufsbezeichnung können gerade ältere Patienten nichts anfangen“, ist die Erfahrung von Kollegin Broers. Sie benutze deshalb im Gespräch den Begriff „Arzt-Assistent“. Eigentlich soll der englische Begriff das neue Berufsbild von der Bezeichnung „Assistenzarzt“ abgrenzen. Doch selbst Ärzte tun sich damit schwer: „Ich weiß nicht, wo ich die PA einordnen soll“, sagt der Niebüller Weinhonig. „Für mich ist das quasi ein ärztlicher Beruf ohne Approbation und ich spreche von Frau Raths auch als meiner Kollegin.“ 

Kopfportrait einer brünetten, lächelnden Frau im dunkelblauen Shirt.
Hanna Broers ©privat

„Ich fühle mich in dem, was ich sage, aufgrund der im Studium erworbenen Kenntnisse sicher.“

Hanna Broers

Finanziell lukrativ ist die Beschäftigung der akademischen Arztunterstützung für die Arbeitgeber (noch) nicht. Bislang gibt es keine Leistungsziffer für die durch PAs erbrachte Leistungen. Warum beschäftigen die Ärzte sie dennoch? Persönliche Entlastung, antworten die Ärzte unisono. „Es geht mir besser, ich habe mehr Zeit für Patientengespräche. Das ist es mir wert“, sagt Deimling. Gleichzeitig führe kein Weg an Abrechnungsziffern vorbei. Wenn man den Bedarf an ärztlicher Versorgung habe und decken wolle, müsse man das auch bezahlen und dürfe sich nicht hinter bürokratischen Feinheiten verstecken.

„Ich kann nicht verstehen, warum ich eine PA-Leistung nicht abrechnen kann, obwohl sie höher qualifiziert ist als eine VERAH oder NäPA“, sagt Dr. Dagmar Gottkehaskamp, Hausärztin in Hennstedt. Als eine von nur sechs Praxen in Schleswig-Holstein beteiligt sie sich am Modellversuch „Physician Assistants in der Allgemeinmedizin“ (PAAM) unter Federführung der Uniklinik Essen. Dabei untersuchen Forscher, inwieweit die hausärztliche Versorgung in ländlichen Räumen durch den neuen Assistenzberuf verbessert werden kann. Ihre PA hat am 1. November angefangen – in Teilzeit. „Da die Tätigkeit nicht zusätzlich abrechenbar ist, wäre es in Vollzeit, noch dazu in einem Modellprojekt,  zu teuer geworden.“ Für ihre Patienten hängt viel vom Ausgang des Versuchs ab. „Ich möchte erfahren, ob man – salopp gesagt - tatsächlich mehr Patienten mit weniger Arzt schaffen kann“, sagt Gottkehaskamp. Falls ja, wäre der Einsatz einer PA ein Grund mehr, dass ihre Tochter sich die Übernahme der Praxis vorstellen könnte.
 

Kopfportrait einer lächelnden brünett gelockten Frau im weißen Rollkragenpulli
Dr. Dagmar Gottkehaskamp ©Eike Lamberty

„Ich kann nicht verstehen, warum ich eine PA-Leistung nicht abrechnen kann, obwohl sie höher qualifiziert ist als eine VERAH oder NäPA.“

Dr. Dagmar Gottkehaskamp

Sollte die PA-Leistung abrechenbar werden, könnten auch die Zukunftsideen von Deimling und Weinhonig Wirklichkeit werden: „Wenn man einen approbierten Arzt hat, der zwei oder drei PAs beschäftigt – das wäre eine enorme Entlastung. Dann könnte ich eine ganz andere hausärztliche Tätigkeit durchführen“, sagt Weinhonig. Pneumologe Deimling setzt zusätzlich auf Telemedizin: „Wenn die KV dieses Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräften abschöpfen würde, dann könnte der Arzt, gegebenenfalls auch im aktiven Ruhestand, vielleicht drei Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Eine PA übermittelt ihm telemedizinisch alle problematischen Fälle zur Begutachtung – das wäre doch wunderbar. Da wäre allen geholfen.“

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