
50 Jahre Psychiatrie-Enquête: Eine Reform als Aufbruch
Die Psychiatrie-Enquête von 1975 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der psychiatrischen Versorgung in der Deutschland. Der Bericht dieser Kommission des Deutschen Bundestages diagnostizierte gravierende strukturelle Defizite, massive Überbelegung in psychiatrischen Anstalten, völlig fehlende gemeindenahe Versorgung und teilweise gravierende Menschenrechtsverletzungen.
Die Enquête war ein Aufbruch: Die Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland hat sich seitdem grundlegend verändert. Sie hat zu einer umfassenderen und menschenwürdigeren Versorgung geführt, die auf die Bedürfnisse und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten abgestimmt ist. Die Reformen der Enquête haben auch die Integration von Menschen in die Gesellschaft und die Arbeitswelt gefördert, was zu einer besseren Lebensqualität und einem stärkeren sozialen Netzwerk für die betroffenen Menschen beigetragen hat.
Aber schon damals forderten die Autoren des Berichtes, dass sich die Gesellschaft auch in Zeiten knapper Ressourcen entscheiden müsse, wieviel Mittel sie aufbringen will, um Menschen mit psychischen Erkrankungen zu helfen. Die Psychiatrie-Enquête war ein Versprechen – aber auch 50 Jahre später sind noch gravierende Probleme festzustellen.
Heute unvorstellbare Verweildauern: 250 Tage
Auch für Schleswig-Holstein hatten die Empfehlungen des Berichtes weitreichende Folgen. Es ist heute kaum noch vorstellbar: Damals betrug auch in Schleswig-Holstein die durchschnittliche Verweildauer in einem psychiatrischen Krankenhaus noch etwa 250 Tage pro Behandlungsfall; zehn Jahre nach der ersten Aufnahme befand sich noch fast ein Drittel der Patientinnen und Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen weiterhin in der Klinik. Gezielte Behandlung oder Psychotherapie fand kaum statt, auch weil es nur sehr wenige Menschen gab, die sich in den Kliniken professionell kümmern konnten. Die psychiatrische Versorgung bestand aus einigen wenigen psychiatrischen Großkliniken – den Landeskrankenhäusern mit zum Teil mehr als 1.000 Betten. Und das oft so weit entfernt von der Lebenswelt der betroffenen Menschen, dass ein Besuch der Patienten durch die Angehörigen innerhalb eines Tages oft nicht möglich war.
Stark gestiegener Bedarf
Das hat sich grundlegend geändert. Auch der Bedarf hat in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Psychische und psychosomatische Erkrankungen gehören heute zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Wir gehen davon aus, dass etwa jeder vierte Mensch in Deutschland innerhalb eines Jahres eine psychische Erkrankung hat, wegen der er therapeutische Hilfe benötigt. Angsterkrankungen, depressive und Suchterkrankungen, aber auch sehr schwere Erkrankungen wie Psychosen oder Demenzen führen oft zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität, oft hin bis zur dauerhaften Erwerbsunfähigkeit. Insbesondere nach der Corona-Pandemie fühlen sich gerade viele Kinder und junge Menschen psychisch sehr belastet. Einsamkeit spielt in allen Lebensphasen eine zunehmende Rolle, chronischer Stress bedroht die Gesundheit gerade von Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft erleben: Menschen in Krisensituation, Menschen, die Arbeitslosigkeit, Armut und Wohnungslosigkeit ausgesetzt sind und auch Menschen mit Migrationshintergrund. Zunehmend mehr wissen wir auch über die Folgen des Klimawandels für psychische Störungen.
Heutige Verweildauern: Unter 25 Tagen
In Schleswig-Holstein wurden teilweise früher und konsequenter als in den meisten anderen Bundesländern Veränderungen umgesetzt. Auch heute noch nimmt Schleswig-Holstein eine Spitzenstellung in vielen Bereichen einer modernen psychiatrischen Versorgung ein. Inzwischen gibt es in jeder Versorgungsregion – den Kreisen und den kreisfreien Städten - regional zuständige Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, eine gemeindenahe tagesklinische Versorgung, Ambulanzen für Psychiatrie und Psychotherapie und in vielen Fällen auch die Möglichkeit der Behandlung zu Hause, das sog. Home Treatment. Die durchschnittliche Verweildauer pro Jahr in psychiatrischen Kliniken in Schleswig-Holstein liegt inzwischen unter 25 Tagen. In den Kliniken, die sehr moderne Versorgungsformen verwirklichen können, noch weit darunter. Die Personalbesetzung in den verschiedenen Berufsgruppen – Pflegepersonen, Ärztinnen und Ärzte, Mitarbeitende im psychologischen Bereich, Ergotherapeutinnen und Sozialpädagogen – hat inzwischen ein Niveau erreicht, das mit der Behandlungssituation bei körperlichen Erkrankungen vergleichbar ist. Auch die Zahl der Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologinnen in eigener Praxis hat zugenommen – ist aber aktuell eher wieder rückläufig.
Regionales Budget führt zu zielgenauerer Behandlung
Bundesweit führend ist Schleswig-Holstein in der Umsetzung zukunftsfähiger Formen der Finanzierung von psychiatrischer Versorgung und der integrativen Behandlung. Etwa ein Drittel der Einwohner von Schleswig-Holstein lebt in Regionen, in denen die Behandlung in den psychiatrischen Kliniken und Zentren für Psychiatrie und Psychotherapie besonders stark an den Bedürfnissen der betroffenen Menschen ausgerichtet ist. In diesen Regionen mit einem Regionalen Budget kann die Behandlung zielgenauer und stärker an der Lebenswelt orientiert durchgeführt werden.
In besonderer Weise ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer Zunahme der gemeindenahen Versorgung gekommen. Sozialpsychiatrische Dienste in den Gesundheitsämtern sind bei Krisensituationen ansprechbar, es gibt Angebote für unterstütztes und betreutes Wohnen und Arbeiten, Tagesstätten für ältere Menschen, Begegnungsstätten, Treffpunkte und Patientenclubs. Dabei sind öffentliche, frei-gemeinnützige und private Träger meist in den Gemeindepsychiatrischen Verbünden regional miteinander vernetzt.
Längst nicht alle Probleme gelöst
Aber wir dürfen – gerade 50 Jahre nach der Psychiatrie-Enquête - nicht die Augen davor verschließen, dass es weiterhin gravierende Probleme in der Hilfe und Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt. Viele Menschen erleben es direkt, dass es unzumutbar lange Wartezeiten auf Termine bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten für Psychiatrie und Psychotherapie gibt, auch bei vielen psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Der Mangel an Personal in den Kliniken - insbesondere in der Pflege und im ärztlichen Bereich – nimmt teilweise gravierende Ausmaße an. Besonders dramatisch ist die Versorgungssituation im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche, obwohl hier Hilfe und Unterstützung ja gerade besonders wichtig wären. Alle, die in diesem Bereich tätig sind, würden sehr gerne viel mehr im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung aktiv werden, denn hier würden sich psychische Erkrankungen verhindern lassen, bevor sie überhaupt auftreten. Und nicht zuletzt erleben viele Menschen auch heute noch alltägliche Stigmatisierung und manchmal auch Diskriminierung. Wir alle sind gefordert, dies zu ändern.






